Jüdisches Erbe lebt auch in digitaler Welt weiter

Heute ist Holocaustgedenktag: Rheinland-pfälzischer Wissenschaftsminister lobt Synagoge Niederzissen als wichtigen Ort gegen das Vergessen

Jochen Tarrach

Kreis Ahrweiler. Vor 75 Jahren, am 27. Januar 1945, wurde das Konzentrationslager Auschwitz von der Roten Armee befreit. Künftig wird es nur noch wenige Zeitzeugen geben, die über ihre Erlebnisse in der NS-Zeit berichten können. Doch das öffentliche Gedenken an den Holocaust wird auch im Kreis Ahrweiler bewahrt und weitergeben. Zum Beispiel von Menschen, die gegen das Vergessen Schicksale recherchiert und aufgeschrieben haben. Ein Erbe für die nächste Generation. Mit den Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts wird seit gestern in der Synagoge Niederzissen die Geschichte des jüdischen Lebens im Brohltal erzählt im ersten Museum im Kreis Ahrweiler, das Bestandteil der bundesweiten Plattform „museum-digital“ ist.
Um das Projekt zu starten, ist gestern der rheinland-pfälzische Minister für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur, Prof. Dr. Konrad Wolf, ins Brohltal gekommen. „Was hier entstanden ist, ist der Beweis, dass es den Nationalsozialisten nicht gelungen ist, die jüdische Kultur vollkommen zu vernichten“, so der Minister, der Museum und Digitalisierung als Beitrag gegen das Vergessen bezeichnete. Von jedem Ort der Erde aus können Interessierte nun unter www.ehem-synagoge-niederzissen.de/rundgang/ einen digitalen Blick in die wieder vorbildlich hergerichtete Niederzissener Synagoge mit angeschlossenem Museum werfen und in deutscher und englischer Sprache umfassende Einblicke in Geschichte und Präsentation des historischen Gebäudes erhalten.
Die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Bonn, Dr. Margaret Traub, bezeichnete es als Glücksfall, dass auf dem Dachboden der Synagoge so viele Dinge die Jahrzehnte überdauert haben. Die rund 65 000 Euro Projektkosten haben das Land und auch die Europäische Union getragen. „Aus dem einstigen, vor 81 Jahren schändlich untergegangenen Zentrum der jüdischen Bevölkerung des Brohltals ist eine würdige Erinnerungs- und Begegnungsstätte, ein Kulturhaus und vor allem ein Lernhaus für Geschichte, gegen Rassismus jeder Art geworden“, so Richard Keuler, Vorsitzender des die Gedenkstätte tragenden Kultur- und Heimatvereins Niederzissen. Eine jüdische Gemeinde gibt es im Brohltal heute nicht mehr.
Norbert Wagner als Vorsitzender des Fördervereins führte durch die Präsentation der aufgefundenen Schriften und Gegenstände und dankte allen am Wiederaufbau beteiligten Bürgern und Sponsoren. Die gezeigten Relikte konnten auf dem Dachboden überdauern, da das Gebäude in der Reichspogromnacht wegen der engen Ortslage nicht angezündet werden konnte. Besonders beeindruckend die Präsentation einiger Fragmente einer Tora, der fünf Bücher Moses als Grundlage der Geschichte und Religion der Juden. Dokumente persönlicher Schicksale komplettieren die Ausstellung. Wie wichtig die ständige Erinnerung an den Holocaust ist, wurde auch dadurch deutlich, dass selbst diese Veranstaltung durch Polizeibeamte abgesichert werden musste.
Überall ermahnen Politiker zum Holocaust-Gedenktag, die Erinnerungskultur nicht bröckeln zu lassen. Auch im Kreis Ahrweiler gab es am Wochenende Veranstaltungen in diesem Sinne, beispielsweise ein Konzert in der Ahrweiler Synagoge.
Überliefert ist, dass allein 31 auf dem Gebiet des heutigen Kreises Ahrweiler geborene oder hier einst lebende Juden nach Auschwitz abtransportiert wurden, 27 weitere nach Theresienstadt. Will man genau wissen, wie viele Juden aus dem Kreis Opfer des Holocaust wurden, so wird es mit den Jahren immer schwerer, darauf eine gültige Antwort zu geben. Einzelne Schicksale wurden nicht schriftlich aufgezeichnet, nur mündlich überliefert. Wenn es nicht Mitbürger wie Ignatz Görtz aus Altenahr, Hans Warnecke aus Bad Neuenahr-Ahrweiler, Rudolf Menacher aus Remagen, Ottmar Prothmann aus Grafschaft, Leonhard Janta aus Bad Breisig und viele Mitbürger mehr mit ihren intensiven Forschungen in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben hätte, könnte jede Bilanz nur auf Vermutungen basieren.
Ihnen ist der heutige Fundus an Aufzeichnungen und Aufsätzen zu verdanken, die zum Beispiel in den Heimatjahrbüchern des Kreises und vor allem im Buch „Kreis Ahrweiler unter dem Hakenkreuz“ von 1989 nachzulesen sind. „Es war eine gewaltige Arbeit, die mehr als zwei Jahre Recherchen erforderte, um das Buch zu schreiben“, erinnert sich Mitautor Leonhard Janta.

Aus dem Kreis Ahrweiler in Konzentrationslager deportiert
Die Zahl der Juden im Kreis war seit Anfang der 1920er-Jahre rückläufig, obwohl sie generell geachtete Mitbürger waren. So wohnten im damals noch selbstständigen Kreis Adenau nur fünf Juden. Zum gleichen Zeitpunkt waren im Kreis Ahrweiler 382 Juden gemeldet. Bereits 1933 war deren Zahl auf 319 zurückgegangen und im September 1939 gar auf 174. Nach dem Krieg wird deren Anzahl auf nur noch zehn beziffert. Der Rest ist „Unbekannt wohin verzogen“, wie es in den Statistiken aus der Nazizeit heißt. Für die meisten verbliebenen Juden war 1942 das Schicksalsjahr. Mit einer sogenannten „Judenkartei“ wurden im Jahr zuvor bereits die Deportationen vorbereitet. Am 30. April 1942 war es dann so weit, dass die unter 65-jährigen Juden vom Sammellager auf Schloss Brohleck bei Brohl aus zuerst in ein Ghetto im Dorf Krasniczyn im Bezirk Lublin/Polen gebracht und von dort aus auf verschiedene Konzentrationslager verteilt wurden. Eine Übersicht vom 7. Juli 1942 weist noch 51 Juden im Kreis Ahrweiler aus. 47 von ihnen wurden am 27. Juli 1942 ebenfalls vom Sammellager Brohl aus nach Theresienstadt und weiter nach Treblinka transportiert. Nur vier von ihnen überlebten. Sicher ist, dass es nach dem Krieg im Kreis Ahrweiler nahezu keine jüdischen Mitbürger mehr gab. Zurück blieben die Ruinen ihrer zerstörten Synagogen und die große Sprachlosigkeit über den unfassbaren Holocaust.

Bilduntertext: Gestern war Wissenschaftsminister Wolf an dem künftigen digitalen Erinnerungsort zu Gast. Foto: Tarrach

Rhein-Zeitung, Bad Neuenahr-Ahrweiler, 27. Januar 2020, Seite 17