Geschichtsstunde der anderen Art erlebt

Geschichtsstunde der anderen Art erlebt

Historie Der evangelische Pfarrer Holger Banse berichtete vor Schülern vom Leben einer Auschwitz-Überlebenden

Hans-Willi Kempenich

Niederzissen. Für 40 Neunt- und Zehntklässler der Realschule plus in Niederzissen war es eine Geschichtsstunde, die haften bleiben wird – wegen des besonderen äußeren Rahmens und eines Themas, das immer noch erschüttert, gerade deshalb aber nicht in Vergessenheit geraten darf: Holger Banse, evangelischer Pfarrer aus Adenau, las für die Schüler in der ehemaligen Synagoge aus seinem Buch „Mein Leben nach Auschwitz. Erinnerungen von Rachel Grünebaum“.

Die Biografie enthält die Lebenserinnerungen der Jüdin Rachel Grünebaum – aber nicht nur die Jahre ihres Aufenthaltes in Auschwitz, ihre Zwangsarbeit in einer Raffinerie in Gelsenkirchen und bei Krupp in Essen sowie die Zeit im Todeslager Bergen-Belsen. Banse hat die Lebenserinnerungen ergänzt durch geografische, historische und religiöse Gedanken. So beschreibt das Buch ein jüdisches Leben in sehr vielen Aspekten und richtet sich, wie es der Wunsch von Rachel Grünebaum war, vornehmlich an jugendliche Leser. Gabriele Grünebaum, die Tochter Rachels, hat aus Familienalben und Archiven die Fotos beigesteuert.

Banse besuchte Rachel Grünebaum zwischen August 2009 und März 2010. Sie erzählte ihm ihre Geschichte, die unbeschwert in einer orthodox-jüdischen Familie in Sighet (Rumänien) begann, ehe Deutsche und Ungarn das Idyll zerstörten. Anders als die Mutter, Schwestern, Nichten und Neffen überlebte sie Auschwitz, Zwangsarbeit und Bergen-Belsen. Als das Lager im heutigen Kreis Celle am 15. April 1945 von englischen Truppen befreit wurde, war sie 21 Jahre alt und wog noch 25 Kilogramm. Sie kehrte zurück nach Rumänien, wanderte nach Israel aus, heiratete und zog auf Wunsch ihres Mannes Fredi, der die Konzentrationslager Dachau und Buchenwald überlebt hatte, mit ihm nach Köln.

Konzentriert und aufmerksam klebten die Jugendlichen an Holger Banses Lippen, als er über den dreitägigen Transport unter unmenschlichen Bedingungen und ohne Nahrung in einem geschlossenen Eisenbahnwaggon nach Auschwitz vorlas. Über die Selektion auf dem Bahndamm, als Rachel Grünebaum ihre Familie zum letzten Mal sah. Den Verantwortlichen für die Auswahl erkannte sie später auf Fotos wieder: Es war der berüchtigte SS-Arzt Josef Mengele. Ihr Leben verdankte sie letztendlich der Tatsache, dass sie zur Zwangsarbeit rekrutiert wurde, weil in den deutschen Industrieanlagen wegen des Kriegseinsatzes die männlichen Arbeitskräfte fehlten.

Vielleicht verdankt sie ihr Leben auch ihrer Courage, für die Rachel Grünebaum noch 2009 ein Beispiel lieferte. Als Papst Benedikt die Piusbruderschaft mit dem Holocaust-Leugner Bischof Richard Williamson, die sein Vorgänger Johannes-Paul exkommuniziert hatte, wieder in die Kirche aufnehmen wollte, schrieb sie an den Papst: „Guten Tag, Eure Heiligkeit! Als Überlebende des Vernichtungslagers Auschwitz bin ich empört über Ihren Umgang mit Bischof Richard Williamson. Trotz meiner 85 Jahre bin ich gerne bereit, einer Delegation mit Herrn Williamson im Vernichtungslager Auschwitz von dieser dunkelsten Zeit in meinem Leben zu berichten.“ Sie erhielt nach Aussage von Holger Banse eine wenig ermutigende Antwort aus Rom und starb am 23. Juli 2010 an einem Krebsleiden.

Rhein Zeitung Bad Neuenahr-Ahrweiler vom Montag, 2. März 2015, Seite 14

Foto: Eine besondere Geschichtsstunde erlebten zwei Klassen der Realschule plus, als Pfarrer Holger Banse aus seinem Buch über die Lebensgeschichte von Rachel Grünebaum las. Foto: Hans-Willi Kempenich