Gedenken an Reichspogromnacht 1938
Lesung in der ehemaligen Synagoge Niederzissen
Niederzissen. Im Rahmen einer Lesung in der ehemaligen Synagoge Niederzissens über die Erinnerungen Rachel Grünebaums, einer Überlebenden der Vernichtungslager Auschwitz und Bergen-Belsen, sowie der Zwangsarbeit in einer Raffinerie in Gelsenkirchen und am Hochofen in Essen, gedachte der Niederzissener Kultur- und Heimatverein des 77. Jahrestages der Reichspogromnacht 1938. Vorsitzender Richard Keuler erinnerte bei seiner Begrüßung daran, dass auch die Niederzissener Synagoge den Schergen des Naziregimes zum Opfer fiel. Sie habe zwar nicht gebrannt, wurde aber im Inneren zerstört und entweiht. Mit diesem barbarischen Akt endete die knapp hundertjährige Geschichte des Hauses als geistiger und religiöser Mittelpunkt des einst umfangreichen jüdischen Lebens in Niederzissen.
Mit der Frage, was wäre, wenn morgen alles wieder so losginge wie damals, spricht Keuler die auch heute brennenden Häuser, Flüchtlingsheime und Unterkünfte von Asylbewerbern, den gegenwärtigen Hass und die Hetze gegen Juden und Muslime an. Mit den Worten: „Es ist unsere Pflicht, wachsam zu sein, den tatsächlichen und geistigen Brandstiftern entgegenzutreten und ein Zeichen zu setzen“ leitete er zu Pfarrer Holger Banse über, der als evangelischer Geistlicher und damaliger Vorsitzender der Oberbergischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit 2010 die Lebenserinnerungen von Rachel Grünebaum, ergänzt durch geografische, historische und religiöse Gedanken, niedergeschrieben hat. Ein gesonderter Teil ist dabei dem Erleben ihres Mannes Fredi gewidmet.
Gespannt lauschten die Zuhörer der Geschichte einer Frau, die unbeschwert in einer orthodox-jüdischen Familie in Sighet (Rumänien) aufwuchs. Dann zerstörten Deutsche und Ungarn das Idyll der Familie. Anders als die Mutter, Schwestern, Nichten und Neffen, überlebte sie das ständige Trachten nach ihrem Tod. Als das Lager Bergen-Belsen am 15. April 1945 von englischen Truppen befreit wurde, war sie 21 Jahre alt und wog nur noch 25 Kilo und hatte das Glück, in einem englischen Hospital langsam wieder zu Kräften zu kommen. Sie kehrte zurück nach Rumänien zu einer ihrer Schwestern, wanderte nach Israel aus und heiratete dort. Auf Wunsch ihres aus Köln stammenden Mannes, der die KZs Dachau und Buchenwald überlebt hatte, kamen sie am 11.11.1953 nach Köln.
Nachdem ihr Mann 1999 gestorben war, ging sie zu einem ihrer Brüder nach Israel zurück. Als auch dieser starb und selbst krank, kehrte sie 2008 nach Deutschland zurück und bezog eine kleine Wohnung im oberbergischen Nümbrecht. Und von hieraus tat sie das, was sie sich vorgenommen hatte. Wenn eine Schulklasse sie einlud, dann ging sie und erzählte ihre Geschichte. „Leben“, leben wollen, das hat sie, nach den Ausführungen Banses, getragen, hat sie leben lassen, trotz all der Unmenschen, die ihr Leben vernichten wollten. „Leben“ das ist die Brücke über fast 87 Jahre hinweg, Jahre, die sie als Kind unbeschwert erleben durfte, bis sich vor ihr die Hölle auftat.
Die für alle Anwesenden interessante, wenn auch bedrückende Lesung endete in einem wechselseitigen Gespräch der Zuhörer mit dem Autor und auch untereinander zu Fragen der historischen und der persönlichen Schuld sowie der gegenwärtigen Entwicklung mit den Flüchtlingsströmen, die vielfach Ängste auslösen und mancherorts zu den Ausschreitungen gegenüber den Fremden führen.