NS-Verbrechen: Täter sehen Opfern erneut ins Gesicht

Ausstellungseröffnung in der ehemaligen Synagoge Niederzissen

Von Martin Ingenhoven

Niederzissen. Täter und Opfer der Zwangssterilisation und Ermordung im Rahmen der NS-Euthanasie schauen sich seit Donnerstagabend in der ehemaligen Synagoge Niederzissen in die Augen. Auf 14 großformatigen Schautafeln informiert die gleichnamige Ausstellung über Täter, Opfer und Orte der systematischen Ermordung kranker und behinderter Menschen im ehemaligen Rheingau in der Zeit des Nationalsozialismus im Rahmen der Aktionen T4, 14f13 und Brand.

„Die sogenannte Vernichtung lebensunwerten Lebens in der Zeit des Nationalsozialismus ist ein Verbrechen, das in seiner Zielrichtung weit über die Schoah hinausweist“, mahnt Richard Keuler, Vorsitzender des Kultur- und Heimatvereins Niederzissen, zur Ausstellungseröffnung. „Jeder Mensch, der nicht in die menschenverachtende Ideologie der Nazis passte, konnte umgebracht werden, unabhängig von Alter, Religion oder Beruf“, so Keuler weiter.

Das Mainzer Haus des Erinnerns für Demokratie und Akzeptanz entwickelte in den Jahren 2019 und 2020 auf Grundlage der Forschungsarbeiten Renate Rosenaus eine Ausstellung, die sich ausschließlich den Krankenmorden in der Zeit des Dritten Reiches widmet. „Wir haben diese Ausstellung ganz bewusst als Wanderausstellung konzipiert und sind froh, dass wir sie hier in der ehemaligen Synagoge Niederzissen zeigen können. Und wenn ich höre, dass sich bereits vor der Ausstellungseröffnung sechs Schulklassen und Gruppen umliegender Schulen angemeldet haben, ist damit dem Zweck der Ausstellung genau entsprochen“, freut sich Henrik Drechsler, stellvertretender Leiter des Hauses des Erinnerns, in seiner Grußbotschaft.

Ebenfalls zur Ausstellungseröffnung erschienen sind Ministerialdirektor Stich als Vertreter des rheinland-pfälzischen Ministeriums für Wissenschaft und Gesundheit sowie Avadislav Avadiev, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Koblenz und des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz.

„Ich bin bewusst als Jude nach Deutschland gekommen, und viele meiner Freunde haben mich nach dem Grund gefragt“, wendet sich Avadiev an die Besucher der voll besetzten ehemaligen Synagoge.

„Ein Mensch ist erst dann tot,

wenn sein Name nicht mehr genannt wird.“

Avadislav Avadiev, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Koblenz und

des Landesverbandes der jüdischen Gemeinden in Rheinland-Pfalz

„Den Grund kann ich Ihnen nennen: Wenn ich nicht hier wäre, dann hätte die menschenverachtende Nazi-Ideologie gewonnen. Und wir Juden haben ein Sprichwort: Ein Mensch ist erst dann tot, wenn sein Name nicht mehr genannt wird. Deshalb ist es für uns Juden auch eine Pflicht, die Namen aller im Dritten Reich ermordeten Menschen immer wieder laut zu nennen. Wir dürfen diese Menschen nicht vergessen“, mahnte Avadiev eindringlich.

Ministerialdirektor Stich betonte die andauernde Verantwortung für jegliche Verbrechen in Deutschlands dunkelster Zeit. „Das ‚Nie wieder‘ ist für uns alle eine kollektive Verpflichtung im Alltag. Und so stehen wir als Landesregierung fest an der Seite aller jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger und wollen alles dafür tun, dass jüdisches Leben hier sicher stattfinden kann“, versprach Stich.

Die Wanderausstellung wartet in Niederzissen mit einer Besonderheit auf, auf die Organisator Keuler besonders stolz ist. „Unser Vorstandsmitglied Brigitte Decker hat die Ausstellung um eine eigene Schautafel ergänzt. Diese gibt Zeugnis über zwei Brohltaler Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns.“ Fritz Eggener aus Niederzissen litt an Epilepsie. Aufgrund dieser Diagnose wurde er nach dem „Gesetz zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ ermordet. Clara Friesem, ebenfalls aus Niederzissen, engagierte sich gewerkschaftlich und für die KPD-nahe Organisation „Rote Hilfe Deutschlands“. Sie wurde für diese Tätigkeit in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert. Gezeichnet von den unmenschlichen Lagerbedingungen wurde Clara Friesem im Rahmen der Aktion 14f13 in der Euthanasieanstalt Bernburg/Saale ermordet.

Diese besondere Informationstafel soll nach dem Ausstellungsende in der ehemaligen Synagoge Niederzissen verbleiben und bei Bedarf an andere Gedenkorte ausgeliehen werden.

Bis 19. November geöffnet

Die Wanderausstellung „Das Leben war jetzt draußen und ich war dort drinnen – Zwangssterilisation und Ermordung im Rahmen der NS-Euthanasie und ihre Opfer“ ist noch bis Sonntag, 19. November, in der ehemaligen Synagoge Niederzissen zu sehen. Die Ausstellung ist jeden Samstag und Sonntag während der regulären Öffnungszeiten frei zugänglich. Unabhängig davon können Besuche durch Gruppen, Schulklassen oder Einzelpersonen über den Kultur- und Heimatverein Niederzissen vereinbart werden. Der Eintritt ist frei, Spenden sind willkommen. red

Kontakt: Tel. 0172/974 46 11, E-Mail info@khv-niederzissen.de

Bilduntertext: Ehrengäste der Ausstellungseröffnung in der ehemaligen Synagoge Niederzissen: Henrik Drechsler (von links), Brigitte Decker, Friedhelm Münch, Avadislav Avadiev, Daniel Stich, Rolf Hans, Richard Keuler, Johannes Bell Foto: Martin Ingenhoven